Putin bricht Völkerrecht: Was jetzt?
- Aleksandra Ratajczak
- 7. März 2022
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. März 2022
Besorgt beobachten wir die Geschehnisse der letzten Tage. Der bewaffnete Angriff auf die Ukraine seitens Kremls löst in Europa ein Kollektivgedenken an den zweiten Weltkrieg aus. Putin hat eindeutig gegen das Völkerrecht verstoßen. Zunehmend hört man in den Medien diese oder ähnliche Aussagen, folgend auf eine Kritik, ob das Völkerrecht überhaupt zu etwas nützlich wäre, wenn es militärische Angriffe nicht abwehren könnte.
von Aleksandra Ratajczak

© Aleksandra Ratajczak
Russland hat einen bewaffneten Angriff auf die Ukraine begonnen, daran ist nicht zu zweifeln. Das, was die Welt zurzeit erschüttert, ist, dass der russische Präsident in seinen Reden der Ukraine das Existenzrecht abgesprochen hat: Ein Narrativ, dass wir eigentlich im 21. Jahrhundert nicht mehr von Staaten kennen. Putin greift damit nicht nur die territoriale Integrität der Ukraine an, sondern spricht ihr ihr Selbstbestimmungsrecht als Land und Volk ab. Warum ist wohl reine Spekulation. Eventuell möchte Putin den näher rückenden „Westen“ abschrecken oder seine Grenzen austesten. Ein Test, wie weit er gehen kann, um dies bei weiteren möglichen bewaffneten Konflikten in den Regionen der ehemaligen Sowjetunion zu versuchen. Möglicherweise wird Putin auch durch einen Zerstörungsdrang vorangetrieben und den ehemaligen Staaten der Sowjetunion schlichtweg die Existenz abspricht, sofern sie sich von den Werten Russlands zunehmend distanzieren. Letztendlich weiß es nur Putin selbst.
Das Interessante bei seiner Argumentation ist, dass er das Völkerrecht nutzt, um die zahlreichen Völkerrechtsverstöße selbst scheinheilig zu legitimieren. Zu den Verstößen zählt unter anderem das Gewaltverbot, das Interventionsverbot, der Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten und das damit zusammenhängende Recht auf territoriale Unversehrtheit, staatliche Immunität und nicht zuletzt das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer.
Die Argumentation Putins geht zurück auf die Unabhängigkeit Kosovos. In dem Gutachten, in welchem vom IGH nicht entschieden wurde, ob nun Kosovo als Land ein Recht auf Sezession habe, hat man lediglich festgestellt, dass eine Unabhängigkeitserklärung nicht gegen das Völkerrecht verstoße. Der IGH hat keine Stellung zu einem Recht auf Sezession abgegeben, aber das Urteil betonte, die verschiedenen Meinungen der Staatengemeinschaft gegenüber
dem Sezessionsrecht aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker: Die eine Ansicht und somit die Mehrheit der Staaten lehnt es vollkommen ab, oder es wird nach einer anderen Ansicht ein allgemeines Recht der sogenannten remedial secession anerkannt, einem Recht auf Sezession bei schweren Völkerrechtsverstößen eines Landes auf eine Bevölkerungsgruppe. Damals hat Russland ein Recht auf Sezession befürwortet, sofern der Staat die Bevölkerungsgruppe unmittelbar bedrohe und eine Existenzbedrohung vorliege.
Bei der Annexion der Krim hat sich Russland dementsprechend auf die Unabhängigkeitserklärung der Krim berufen, die zu einer angeblichen Sezession von der Ukraine führte. Diese war zumal unabhängig von der Frage, ob ein Recht auf Sezession nun allgemein anerkannt wird oder nicht, nach objektiven Maßstäben nicht gegeben, denn der Krim fehlte es schon einmal das Merkmal der Staatsqualität. Russland habe jedoch die vermeintliche Unabhängigkeit der Krim anerkannt, und in Augen Russlands wurde diese zu einem neuen Völkerrechtssubjekt. Eine Anerkennung eines Völkerrechtssubjektes durch andere Staaten hat keinen konstitutiven Charakter, sondern ist rein deklaratorisch. Das bedeutet, dass es zwar eine politische Indiz- oder Druckwirkung erzeugt, es macht aber ein Gebiet nicht zu einem Staat. Auch dies ignorierte jedoch Russland und berief sich auf die Haltung anderer Staaten zur Staatlichkeit Kosovos in dem Kosovo—Urteil des IGH.
Nach der angeblichen Sezession der Krim von der Ukraine folgte eine feierliche „ Inkorporation“ dieser in Russland - was nach allgemeinen völkerrechtlichen Maßstäben als Annexion angesehen wird.
Es scheint, dass sich die Geschichte wiederholt: Auch in der gegenwärtigen Lage begründet Putin seine Aggression mit dem drohenden Genozid in Luhansk und Donezk, die von Russland nun als souveräne Gebiete anerkannt wurden. Schon wieder nutzt Russland das Selbstbestimmungsrecht der Völker aus, um daraus ein Recht auf Sezession zu konstruieren, um in Zukunft eine potenzielle Gebietserweiterung im Sinne einer Annexion für sich zu beanspruchen. Eine fast schon perverse Umkehrung eines völkerrechtlichen Prinzips aus dem Dekolonialisierungskontext, um widersprüchlich zu diesem selbst einem Staat die Selbstbestimmtheit abzusprechen.
Was kann die internationale Gemeinschaft tun?
Der Sicherheitsrat der UN, das supranationale Forum schlechthin für die Beendigung von bewaffneten Konflikten, ist wohl blockiert, da Russland eines der 5 Ständigen Mitglieder ist und als solcher stets ihr Veto gegen mögliche Resolutionen des Sicherheitsrates einlegen kann. Die Situation erinnert an die Zeiten des Kalten Krieges und der dauerhaften Blockade des Organs. Eine weitere Möglichkeit sind die Resolutionen der Generalversammlung, die jedoch unverbindlich sind und deshalb im Vergleich zu den Entscheidungen des Sicherheitsrates keine große Druckwirkung haben. Als dezentrale Rechtsordnung hat das Völkerrecht nur begrenzte Möglichkeiten an zentralen Durchsetzungsmechanismen. Eines davon wäre der bereits erwähnte, jedoch blockierte Sicherheitsratsbeschluss, aber auch Sanktionen bzw. „countermeasures“ zählen dazu. Diese sind nach den Grundzügen der Staatenverantwortlichkeit grundsätzlich dem verletzten Staat vorenthalten, sind aber heutzutage als eine erga omnes Verpflichtung bei schweren Völkerrechtsverstößen anerkannt, einer Verpflichtung, die gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft geschuldet ist und von jedem prozessual geltend gemacht werden kann.
Eine weitere interessante Entwicklung ist die Klage, die die Ukraine gegen Russland vor dem IGH eingereicht hat: Die Ukraine wandte sich an den IGH mit der Frage zu prüfen, dass ihrerseits kein Völkermord begangen wurde. Es bleibt abzuwarten, wie der IGH diesen Fall behandelt, aber es wäre eine taktische Möglichkeit, durch die Hintertür die Rechtswidrigkeit des bewaffneten Angriffs Russlands auf die Ukraine festzustellen.
Letztendlich sind die Solidarität und der Einsatz von Individuen, NGOs und sogar Privatunternehmen äußerst bewundernswert: Spenden, Proteste, Hilfe an der Grenze, freie Wohnungs- und Transportmöglichkeiten für Geflüchtete. Der „Westen“ kann, wenn er will. Mögen wir dies auch bei weiteren nichteuropäischen internationalen Konflikten im Hinterkopf behalten.
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