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Gibt es eine deutsche historische Verantwortung gegenüber Palästinenser:innen?

Menschenrechtsorganisationen werfen Israel vor, an den Palästinenser:innen ein System der Apartheid zu verüben. Was bedeutet das für Deutschland?


von Lily Coen


© Antonia Hinterdobler


Am 01.02.2022 veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) nach zweijähriger Recherche und rechtlicher Analyse einen Bericht, in dem sie feststellte, dass Israel ein System der Apartheid an der palästinensischen Bevölkerung und den besetzten palästinensischen Gebieten verübe. Konkret bedeutet dies für Palästinenser:innen Beschlagnahmungen ihres Landes und Eigentums, rechtswidrige Tötungen, Zwangsumsiedlungen, drastische Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und die Verweigerung der Nationalität und Staatsbürgerschaft.


Andere Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, Yesh Din und B’T selem hatten zuvor bereits Berichte mit ähnlichem Inhalt veröffentlicht. All diesen Berichten und den darin dargestellten Menschenrechtsverletzungen wurde medial wenig Aufmerksamkeit geschenkt, jedenfalls nicht die Art von Aufmerksamkeit, die angesichts des Inhalts der Berichte angemessen und vielleicht sogar üblich gewesen wäre. Provozierte der AI-Bericht bei der israelischen Regierung allemal ein müdes Gähnen, so führte er in Deutschland dazu, dass namhafte Medienhäuser, etwa taz, WELT und SPIEGEL, um nur einige zu nennen, Antisemitismusvorwürfe gegen AI erhoben und die Menschenrechtsorganisation öffentlich diffamiert haben. Doch auch das führte nicht dazu, dass die internationale Gemeinschaft ihr kollektives Schweigen brach. Wünsche nach einer sachlichen und ernsthaften Auseinandersetzung seitens Regierung, Medien und Öffentlichkeit mit dem Inhalt des Berichtes, die der Härte der beschriebenen Lage gerecht wird, bleiben unerfüllt.


Andere AI-Berichte, die Menschenrechtsverletzungen darlegen - etwa im Irak oder in China an den Uiguren - führten nicht dazu, dass Legitimität und Ruf der Organisation infrage gestellt wurden. Gleichermaßen beweist die aktuelle Lage zwischen Russland und der Ukraine über welche Möglichkeiten und Rechtsmittel die internationale Gemeinschaft verfügt, wenn sie diese einsetzen möchte, wenn sie den Willen hat, Verdachten nachzugehen und Völkerrechtsverstöße sichtbar zu machen.


Die Bundesregierung lehnte den Bericht von AI zur Apartheid in Israel ab, ohne dies sachlich zu begründen. Eine begründete Entkräftung des Apartheidvorwurfs fehlt demnach - und das obwohl Deutschland mit dem Beitritt zur UN-Rassendiskriminierungskonvention (ICERD) und dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (Rom-Statut) die Verpflichtung trifft, mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Rom-Statuts zu ermitteln und zu bestrafen. Im ICERD verpflichteten sich alle Vertragsstaaten, nicht nur Apartheid im eigenen Land zu bekämpfen, sondern dieses Verbrechen auch international zu verurteilen. Dieser Verpflichtung ist die Bundesregierung bislang nicht nachgekommen. Weiterhin verbietet die Genfer Konvention etwa in Art. 49 Abs. 6 die Umsiedlung von Teilen der Bevölkerung eines Staates auf das Territorium eines anderen Staates, den es unter Anwendung von Waffengewalt besetzt hat - wie es der israelische Staat getan hat. Daraus resultiert eine unmittelbare völkerrechtliche Pflicht für die Vertragsparteien - also auch Deutschland - die Einhaltung der Konvention durchzusetzen.


Die Reihe von Beispiele für die Einseitigkeit der deutschen Narrative in Bezug auf diesen Konflikt und den Umgang damit - seitens Regierung, öffentlicher Institutionen und vielen Medien - geht lange weiter.


Im Jahr 2020 bereitete eine Gruppe israelischer Studenten in Berlin eine Reihe von Online-Vorlesungen an ihrer Kunsthochschule vor, sie trug den Titel „The School for Unlearning Zionism“. Aufgrund von Beschwerden, die Vorlesungen seien antisemitisch, wurde die Finanzierung zurückgezogen. Nachdem Kritiker behaupteten, eine Ausstellung über die Geschichte Jerusalems widme der muslimischen Vergangenheit der Stadt zu viel Aufmerksamkeit, musste der Direktor des jüdischen Museums zurücktreten.

Reagierend auf Eskalationen im Nahen Osten twitterte die Außenministerin Annalena Baerbock, dass die Bilder aus Israel sie mit größter Sorge erfülle, sie die Hamas aufs Schärfste verurteile und die Gewaltspirale zeige, wie dringend die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen sei. Dass sie den Begriffs „Gewaltspirale“ gebrauchte, führte zu großer Entrüstung, deutet er doch an, dass der Konflikt nicht nur einseitig verursacht wird, sondern vielmehr zwischen der Hamas und der israelischen Regierung stattfindet. Dabei sei außen vorgelassen, dass die Todeszahlen zeigen, dass der Konflikt nicht nur beidseitig verursacht ist, sondern ein klares Machtverhältnis herrscht.

In Berlin verbot die Polizei mehrere für den 13. und 15. Mai geplante Demonstrationen zum Nakba-Tag. An diesem Tag wird an die mehr als 700.000 Palästinenser:innen erinnert, die aus ihren Häusern fliehen mussten oder vertrieben wurden, an die mehr als 400 palästinensischen Dörfer, die bei den Ereignissen im Zusammenhang mit der Gründung Israels im Jahr 1948 zerstört wurden. Die Organisatoren fochten das Verbot an, aber das VG Berlin und auch das OVG Berlin-Brandenburg bestätigten es. Einschränkungen der Versammlungsfreiheit sind zulässig, wenn diese zwingend, notwendig und verhältnismäßig sind. Ob ein präventives Verbot des Gedenkens an ein Ereignis diesen Anforderungen genügt, lässt sich bezweifeln. Ein (präventives) Verbot sollte das letztmögliche Mittel sein. Aufgabe der Polizei wäre es gewesen, die Demonstrationen zu regulieren und antisemitische Handlungen sowie Aufstachelung zu Gewalt zu bestrafen. Ein Verbot ist schwer nachzuvollziehen, wenn es sich auf Spekulationen über potenzielle rechtswidrige Handlungen einer Minderheit stützt, während sich eine Mehrheit friedlich versammeln will.


Auch die diesjährige documenta-Messe war überschattet von Antisemitismusvorwürfen - zu großen Teilen vollkommen zurecht: Wenn es etwa um die kommentarlose Ausstrahlung historischer, pro-palästensischer Propagandafilme aus den 60er-Jahren geht, sollte es diesbezüglich keine zwei Meinungen geben. Vorgeworfen wurde jedoch auch die mangelnde Repräsentation israelischer Künstler:innen und die Einladung palästinensischer Künstler:innen aus dem Kollektiv Question of Funding of Ramallah. Bundespräsident Steinmeier eröffnete die documenta mit einer Rede, die schon voraussetzte, dass diese Vorwürfe auch begründet seien. Bereits die Abwesenheit israelischer Künstler:innen käme einem Boykott und somit einer Existenzverweigerung des Staates Israel gleich.


2019 verabschiedete der Deutsche Bundestag die BDS-Resolution. BDS steht für die gegen Israel gerichtete Kampagne „Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen“. Das deutsche Parlament stufte das BDS-Argumentationsmuster und die Methoden als antisemitisch ein und beschloss, solche Veranstaltungen zukünftig nicht mehr mit Bundesmitteln zu fördern. Es mag richtig und begründet sein, die BDS-Kampagne kritisch zu betrachten. Komplizierter wird es, wenn man die BDS-Kampagne mitsamt aller beteiligten Organisationen und Einzelpersonen pauschal als antisemitisch bezeichnet. So werden weite Teile der palästinensischen Zivilbevölkerung sowie vereinzelte israelische Initiativen, die sich pazifistisch für ein Ende der Besetzung einsetzen und vor diesem Hintergrund BDS unterstützen, mundtot gemacht.


Die Bekämpfung von Antisemitismus ist ein politisches Ziel, das höchste Priorität haben muss. Das entschiedene, unbedingte „Nein“ zum Hass auf Jüdinnen und Juden ist und muss Teil der deutschen Staatsraison bleiben. Antisemitismus hat sich als die verheerendste Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der Geschichte unseres Landes und ganz Europa erwiesen. Auch heute ist Antisemitismus eine Bedrohung - sowohl für Jüdinnen und Juden als auch für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Der Einsatz, den wir dagegen leisten, muss stetig sein, unnachgiebig. Dies darf jedoch selbst oder gerade - wie ordnet man das deutsche Übel besser ein? - vor dem Hintergrund unserer Geschichte nicht bedeuten, dass wir bei der Antisemitismusbekämpfung vergessen, gegen die Menschenrechtsverletzungen an Palästinenser:innen vorzugehen.


Zu kurz kommt, dass von einer Verantwortung Deutschlands für das Existenzrecht des palästinensischen Volkes nie die Rede ist. Dabei ist doch das deutsche Volk nicht nur für den Holocaust verantwortlich, sondern auch für das Leid der Palästinenser:innen, die mit der Staatsgründung Israels aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben wurden. Dazu kommt, dass 75 Jahre nach dem UN-Teilungsplan ein palästinensischer Staat mit der völkerrechtswidrigen Siedlungspolitik in immer weitere Ferne rückt. De facto zahlen die Palästinenser:innen damit einen Teil des Preises für den von Deutschland zu verantwortenden Holocaust.

Bisher hat man es umgehen können, sich einer ehrlichen Auseinandersetzung mit dem Apartheid-Vorwurf zu stellen, indem man Kritik an Israel und dem Zionismus mit Antisemitismus gleichsetzte. Gesagt wird, dass die Zahl antisemitischer Delikte steigt und sie häufig „von radikalen Muslimen“ verübt werden. Der oberste Antisemitismusbeauftragte der Bundesrepublik, Felix Klein, sagte jüngst, dass es sich bei mehr als 90% der Delikte um „Israelbezogenen Antisemitismus“ handele.


Aber was verstehen wir heute in Deutschland überhaupt unter Antisemitismus? Nach der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance sind Straftaten antisemitisch, wenn die Angriffsziele deshalb ausgewählt werden, weil sie jüdisch sind, als solche wahrgenommen werden oder mit Juden in Verbindung gebracht werden. Der AI-Bericht aber erwähnt an keiner Stelle, dass der Staat Israel angegriffen werden soll, weil er die politische Organisationsform eines jüdischen Kollektivs ist. Kritisiert wird allein die israelische Regierungspolitik, wie es in gleicher Weise auch mit der Politik anderer Staaten geschieht. Israel wird nicht in seiner Eigenschaft als jüdisches Kollektiv angegriffen, sondern als Staat. Kritik an Israel, die mit der an anderen Staaten vergleichbar ist, kann aber nicht als antisemitisch betrachtet werden. Der Begriff Antisemitismus sollte nicht so ausgelegt werden, dass die ernsthafte Auseinandersetzung mit völkerrechtlichen Tatbeständen und die Anwendung international anerkannten Rechts zur Straftat wird.


Selbst wenn es so wäre, dass schärfere Israelkritik das Risiko trägt, nicht von jedem differenziert werden zu können, ist es bei der Erhebung völkerrechtlicher Tatbestände nie um die möglichen negativen Konsequenzen gegangen, die dadurch mit einhergehen könnten. Antisemitismus entsteht nicht, indem Völker- und Menschenrechte angewandt und Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Wollen wir gegen Antisemitismus in Deutschland und auf der Welt vorgehen, dann müssen seine Ursachen bekämpft werden. Die Tolerierung der Begehung von Menschenrechtsverletzungen und das bewusste Wegschauen des globalen Westens von der palästinensischen Bevölkerung haben mit Antisemitismusbekämpfung nichts zu tun. Völkerrechtliche Tatbestände müssen erhoben werden, wenn sie vorliegen. Antisemitismus aber muss unabhängig davon bekämpft werden und darf nicht dafür entscheidend sein, ob Tatbestände gegen die israelische Regierung erhoben werden oder nicht.


Indem Völkerrechtsbrüche und Menschenrechtsverletzungen die Israel, die Palästinensische Autonomiebehörde und die Hamas begehen, nicht sanktioniert werden und für mutmaßliche Kriegsverbrechen nicht zur Verantwortung gezogen werden, normalisieren wir die Verletzung von Menschenrechten und Völkerrechtsbrüchen, unterstützen den fortgehenden Rechtsbruch und schwächen die Glaubwürdigkeit einer für die Menschheit essenziellen Rechtsordnung.

Wenn die Deutschen aus ihrer historischen Verantwortung ableiten, dass sie den jüdischen Staat bedingungslos schonen müssen, dann ist das moralisch falsch. Es ist allein schon deshalb falsch, weil die im Holocaust ermordeten Juden unterschiedliche Meinungen zur jüdischen Staatlichkeit hatten. Viele waren Antizionisten, sie vertraten also genau die Ansicht, die der Deutsche Bundestag heute für antisemitisch hält. Auch heute gibt es keinen jüdischen Konsens, die israelische Regierung spricht, auch wenn sie dies behauptet, nicht für alle Juden als Kollektiv.

Die internationale Gemeinschaft - und dabei insbesondere der deutsche Staat - müssen die aus der deutschen Geschichte gezogenen moralischen Lehren vollständig und ehrlich ziehen. Kategorien „akzeptierter“ Völkerrechtsverstöße dürfen nicht geschaffen werden. Selektives Völkerrecht steht im absoluten Widerspruch mit dem Zweck und den Werten dieser Rechtsordnung.


Es sollte allein das Leid selbst sein, das es zu verhindern gilt. Die historische Verantwortung gilt der Sache der Menschenwürde - nicht der Verteidigung einer Bevölkerungsgruppe auf Kosten einer anderen. Wird diese Verantwortung weiterhin danach ausgelegt, dann hält der deutsche Staat die moralische Verantwortung nicht ein, die er sich durch seine Geschichte auferlegt hat.

Deutschland muss folglich entscheiden, was die deutsche historische Verantwortung, die wir tragen, heute bedeutet und was sie bewirken soll. Anstatt weiterhin die Augen vor Völker- und Menschenrechtsverletzungen zu verschließen, müssen die möglicherweise einschlägigen Strafanklagen erhoben und die Täter dafür verantwortlich gemacht werden. Es darf nicht sein, dass Kritik und Recht, die für jeden Staat innerhalb der Staatengemeinschaft in gleicher Weise gelten, bei einem Staat keine Anwendung finden. Es ist deswegen auch die Aufgabe der Regierung, der Medien und allen voran: der Rechtsprechung, zwischen israelbezogenem Antisemitismus und differenzierter Israelkritik zu unterscheiden, diese zwei Fallgruppen zu präzisieren und Konturen zu schaffen, die es erkennbar machen, wann was vorliegt. Es kann nicht sein, dass Menschen in Deutschland bestraft oder von ihren Ämtern zurücktreten müssen, weil sie für die gleichen Prinzipien in Israel-Palästina eintreten, wie wir sie in Deutschland predigen und schätzen. Die aus der Vergangenheit resultierende Verantwortung der deutschen Politik ist es, immer und überall und mit aller Kraft für den Frieden zu arbeiten und auf die Einhaltung des Völkerrechts zu achten. Nur so kann ein zwingender Diskurs zugunsten der Konfliktlösung zwischen Israel und Palästina, der Achtung von Menschenrechten und der Bekämpfung von Antisemitismus entstehen.

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